Herr Wolfgang Schneider, ehemaliger Schüler dieser Klasse, berichtet über seine Zeit am Reformrealgymnasium Nürnberg

 

Das vorliegende Gespräch mit Herrn Wolfgang Schneider fand im Januar 2018 statt, in seinem wieder aufgebauten Familienanwesen in der Bergstraße, unterhalb der Nürnberger Burg, unweit des Albrecht-Dürer Platzes.
Dort war  er genau vor 96 Jahren auf die Welt gekommen.
Herr Schneider war im Anschluss an das Gespräch in dankenswerter Weise bereit, seine Aussagen um eine Reihe schriftlicher Ergänzungen zu bereichern.

Reformrealgymnasium Nürnberg, Schuljahr 1932/33, Klasse 1b
Quelle: Wolfgang Schneider (privat)

„Herr Schneider, vor uns liegt ein Klassenbild. Es zeigt Sie und Ihre Mitschüler der Reformklasse 1b des Realgymnasium Nürnberg, in das Sie 1932 eingetreten sind.“ (Anm. 1)

„Ja, die Schule begann damals an Ostern. Das Foto entstand also wahrscheinlich am Ende des Schul­jahres 1932/33.  In der ersten Reihe, der zweite von links, das bin ich, kniend.  Dann erkenne ich die Zwillinge Gutmann. Ihre Eltern betrieben einen Weinhandel in der Südstadt, namens „Bavaria Bodega“. Hier, der blonde Lockenkopf, das ist Walter Strauß. Und da ist  mein Freund Roland Gartmeier, mit dem ich in den großen Ferien per Rad zum Bodensee gefahren bin. Und hier in der zweiten Reihe mein jüdischer Schulfreund Kurt Freitag, mein täglicher Begleiter auf dem gemeinsamen Schulweg.“

Wolfgang Schneider, ca. 1929
Quelle: Wolfgang Schneider (privat)

„Die ganze Klasse trägt Schülermützen …“

„Das war damals noch üblich. Bald aber ließen wir das. Es galt als elitär. Im Dritten Reich stand ja die Volks­gemeinschaft im Mittelpunkt.“

„Der Lehrer mit dem breitkrempigen Hut, das war wohl Ihr Klassleiter?“

„Ja,  das war Dr. Kupfer.  Ein hervorragender Pädagoge. Er leitete nach dem Krieg lange Jahre das Gymnasium Forchheim  und verfasste auch ein Buch über die Geschichte dieser Stadt.“

„In Ihrer Schule waren viele jüdische Mitschüler.“

„Ja, das war schon erstaunlich. Zwei Drittel der Schüler unserer Klasse waren Juden. Unsere Klasse war sicher die mit dem höchsten Anteil an jüdischen Schülern in der ganzen Schule.“

Im Jahresbericht der Schule für 1932/33 ist Folgendes dokumentiert:
Es gab damals vier Eingangsklassen mit insgesamt 166 Schülern. Davon waren 34 Schüler jüdisch. Die Klasse 1b hatte tatsächlich mit 22 jüdischen Schülern (von insgesamt 33 Schülern) den weitaus höchsten Anteil jüdischer Schüler.

„Im Jahresbericht habe ich gelesen, wie Ihr Englischlehrer hieß. Sie erinnern sich?“

„Ja natürlich: Dr. Urschlechter! Der Vater des späteren Oberbürgermeisters. Wenn man den OB im Gedächtnis hat, dann kann man sich kaum vorstellen, dass sein Vater so aussah. Der war hager. Groß und hager. Er hatte so eine trockene Art. Ich kann mich noch gut an ihn erinnern.
Und dann erinnere ich mich noch besonders an einen anderen Lehrer, an den Mathematiker Dr. Lebermann. Das war eine Tragik, die uns sehr erschütterte. Er war Jude und hat sich zusammen mit seiner Frau mit Gas vergiftet. Ich bin mir ziemlich sicher, das  hat sich schon 1933 zugetragen.“

Herr Schneider findet keine Worte, um diesbezüglich  auf weitere Erinnerungen einzugehen.

„Es wäre sehr aufschlussreich, diesen Selbstmordanlass zu untersuchen.“
(Anm. 2)

An den Aufnahmeort des Fotos kann sich Herr Schneider nicht erinnern.  Zu seiner Schulzeit waren, so Herr Schneider, die Unterstufenklassen im Melanchthon­bau untergebracht. Das vorliegende Bild zeigt jedoch eindeutig den Eingang des  „Hauptbaus“, also des ehem. Landauerklosters an der Vorderen Landauergasse. In diesem Gebäude hatte Herr Schneider offenbar nie Unterricht, weil er nach der dritten Klasse an das (heutige) Hans-Sachs Gymnasium übergewechselt war.

Aus Herrn Schneider Worten geht hervor, dass er sich im alten Melanchthonbau bei der Egidienkirche offenbar wohl ­gefühlt hat:

„Das Gebäude ist ja nur zweigeschossig. Das ist vom Maßstab her durchaus kindgemäß. Unsere Schule hatte zwei Höfe, den Innenhof zwischen den Melanchthon-Flügelbauten und den östlichen Hof zwischen dem Melanchthonbau und dem (damaligen) Neubau.“

Herr Schneider erläutert seine Ausführungen mit einer von ihm gefertigten Skizze.

„Das war eine heimelige Atmosphäre hier in diesem alten Klosterbereich, trotz des etwas spärlichen Tageslichtes. Der (damalige) Neubau, der hat mir weniger gefallen. Da war im oberen Stockwerk der Musiksaal untergebracht. An der Westseite des Hofes zum Neubau, da befand sich, angelehnt an den Altbau, ein alter Brunnen. Auf seinen umlaufenden Stufen hielten wir uns in den Pausen mit Vorliebe auf und kauften unsere Brezen am geöffneten Küchenfenster der Hausmeisterwohnung.“

„Sie haben mir erzählt, dass Sie hier in diesem Haus, im ehemaligen „Bibra-Haus“ geboren und aufgewachsen sind und noch während Ihrer Schulzeit in der Volksschule am Paniersplatz mit den Eltern in Ihr unteres Haus am Albrecht-Dürer Platz umgezogen sind.  Wie haben Sie damals die Zeit empfunden, als Sie an Ostern 1932 ins Realgymnasium kamen?“

„Der Albrecht-Dürer-Platz war für uns Kinder der ideale Mittelpunkt unseres Spielbereichs. Auf dem  ganzen Platz gab es nur ein Auto. Am  Westchor der Sebalduskirche lag unser Sandspielplatz. Dort beschäftigten wir uns mit Sandstechen und Schussern. Heute liegt dort ein befestigter Parkplatz. An der leider zerstörten Moritzkapelle befand sich auf der Südseite zwischen zwei Stützpfeilern eine Ölbergszene aus Sandstein. Wir zwängten uns zwischen ihren Gitterstäben hindurch und gesellten uns zur Ölberggruppe:  so lieferten wir den Touristen eine zusätzliche „Sehenswürdigkeit“. Am Abend halfen wir den Marktfrauen, ihren Handwagen zum Tiergärtnertor  hinaufzuschieben. Das brachte meist  2 x 10 Pfennige. Beim „Räuber und Schander“-Spiel dehnte sich unser Spielbereich bis zu den Felsen unterhalb der Burgfreiung aus.“

„Und doch war es eine schlimme Zeit. Die Wirtschaft lag danieder. Die Arbeitslosenzahl stieg auf über sechs Millionen. Das entsprach über 30 Prozent der Arbeitnehmer. Das durchschnittliche Jahres­einkommen sank auf 670 RM, weniger als 60 RM im Monat. Nach Abzug der Wohnungsmiete blieben günstigenfalls 30 RM im Monat übrig. 1 Liter Milch kostete 18 Pfennige, ½ Liter Bier 25 Pfennige. Der Mindest­stunden­lohn lag bei 50 Pfennigen, der Facharbeiterlohn bei maximal 1 RM. Nur mit dem geringen Erlös von Gelegenheitsarbeiten vermochten die Arbeitslosen ihre Familien vor Hunger zu bewahren.“

Wolfgang Schneider beim Gespräch im Februar 2018
Quelle: J. Mensdorf (privat)

„In unserem Haus am Albrecht-Dürer-Platz wohnte eine junge Familie. Sie war jahrelang arbeitslos. Ihr kleiner Sohn hielt sich meist bei uns auf. Ich fragte ihn nach seinem Weihnachtsgeschenk. Er schwieg betreten. Sein Vater sagte, „an Weihnachten haben wir uns mal satt gegessen.“ Das brannte sich in mein Gedächtnis ein.
Bei 10 Parteien und 20 Regierungen innerhalb von 14 Jahren eine politisch aussichtslose Lage.
Das war eine aufrührerische Zeit. Auch als Kinder empfanden wir dies hautnah. Straßenkämpfe zwischen uniformierten Trupps von SA, Sozis und Kommunisten waren fast schon an der Tages­ordnung. 1932 herrschte eine gefährliche Spannung. Die Schuld an der tiefen Kluft zwischen „bitter arm“ und „reich“ schob die NSDAP auch dem „Internationalen Judentum“ zu. Julius Streichers „Stürmer“ heizte in Nürnberg die Stimmung besonders auf.
Warum sich die Juden auf den Handel und den Geldverleih verlegt hatten, ist ja bekannt. Sie waren im Mittelalter von den Zünften ausgeschlossen gewesen und durften kein Handwerk ausüben. Als das Zinsverbot aufgeweicht wurde, verlegten sie sich neben dem Handel auf den Geldverleih.
Nach über 300 Jahren Ausgeschlossenheit aus Nürnberg durften sich die Juden erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts hier wieder ansiedeln.  Wirtschaftlich geschickte Juden kamen bald zu beachtlichem Reichtum und zeigten ihn auch stolz. Denken Sie nur an die Jugendstilhäuser am  Prinzregentenufer und die Frommannstraße in Nürnberg sowie an die Hornschuchpromenade in Fürth.

Am Freitagabend am Spitalplatzlatz, das war schon ein gesellschaftliches Ereignis, wenn die jüdischen Familien mit dem Kraftwagen an der Synagoge vorfuhren, die Männer mit Frack und Zylinder oder Melone (Gochs), die Frauen im schwarzen Kleid. Das war nicht nur ein frommer Kirchgang sondern auch ein gesellschaftliches Treffen. Die Juden waren schon stolz als gleichberechtigte, zudem noch wirtschaftlich erfolgreiche Bürger dieser Stadt. Dies alles war natürlich Wasser auf den Mühlen der NSDAP, verdeckte jedoch den Blick auf ein weniger geldorientiertes Judentum.“

„Ich habe diese dramatischen Vorgänge bedrückt, jedoch mit jugendlicher Neugier und … wie soll ich sagen, … etwas von außen beobachtet.“

„Können Sie das erklären?

„Mein Elternhaus war politisch nicht festgelegt. Mein Vater war Winzersohn aus Unterfranken. Nach seiner Meisterprüfung als Möbelschreiner studierte er an der Kunstschule Nürnberg (heute: Akademie der Bildenden Künste) Innenarchitektur. Nach dem Diplom zog es ihn ins Ausland. Zuerst für ein Jahr nach New York. Vom vorherrschenden Business-Denken enttäuscht kehrte er nach Europa zurück. Zunächst nach Straßburg, dann nach Genf und schließlich nach Paris. Dort fand er eine ihn ganz erfüllende Aufgabe. Er wäre wohl endgültig dort geblieben, wenn nicht während eines Heimaturlaubs der 1. Weltkrieg ausgebrochen wäre.
Meine Mutter, Lehrerstochter und Klassenprima im Gymnasium der Englischen Fräulein in Bad Kissingen hatte im Hotelbetrieb ihrer Tante in Köln kurzzeitig schon die Luft der freien Welt gesogen.
Das war der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem ich hier in Nürnberg in meinem Elternhaus aufgewachsen bin.
In unserem Haus in der Bergstraße wohnte eine halbjüdische Familie. Bis zur Zerstörung des Hauses im Februar 1945. Meine Eltern mussten sich deswegen oft spitze Bemerkungen anhören. Doch meinen Vater hat das nicht interessiert.“

„Wie haben Sie das Verhältnis zu den jüdischen Mitschülern empfunden?“

„Zunächst suchte man sich unvoreingenommen den passenden Banknachbarn. Dann tastete man die nächsten Nachbarn ab. Allmählich spürte man, wie sich die jüdischen Mitschüler gerne zusammentaten. Unter sich waren sie ja sehr lebendig, den Nichtjuden gegenüber jedoch etwas vorsichtig. Sie vermieden jede Konfrontation. Das hatte man ihnen vermutlich schon zu Hause empfohlen. Eine geschlossene Kameradschaft konnte sich so schwerlich bilden. Das schloss jedoch nicht aus, dass sich Freundschaften bildeten, wie zwischen Kurt Freitag, meinem täglichen Weggefährten und mir.“

„Können Sie über weitere Erlebnisse berichten?“

„Soziale Unterschiede waren erkennbar. Zwischen Schülern aus begütertem, weltoffenem Haus und solchen aus einem ärmeren, strenggläubig jüdischen Haus. Ein jüdischer Schüler meiner Klasse durfte am Samstag nicht einmal seine Schulmappe tragen. Sie wurde ihm von einem Dienstmädchen gebracht. An einem Samstag war er mit dem Tafeldienst an der Reihe. Er weigerte sich aber die Tafel zu putzen. Er wurde von nichtjüdischen Schülern aufgefordert sich nicht zu drücken und die Tafel sauber zu machen. Er tat es schließlich, aber unter Tränen. Die umstehenden jüdischen Mitschüler fanden dieses „unchristliche“ Verlangen offenbar nicht so schwerwiegend, als dass sie dagegen eingeschritten wären.“

„Haben das die Lehrer mitbekommen?“

„Nein, das geschah in Abwesenheit des Lehrers.
Die Lehrer am Realgymnasium habe ich als liberal in Erinnerung. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass die Schulleitung sehr bemüht war, störende Einflüsse von außen fernzuhalten.“

„Ich habe mal gelesen, dass manche Schüler in HJ-Uniform zur Schule gingen. Können Sie das für das Realgymnasium bestätigen?“

„Nein, überhaupt nicht. Nicht während meiner Schulzeit dort bis 1935“

„Kurt Freitag, das ist einer von zwei jüdischen Mitschülern Ihrer Klasse, welche die NS-Zeit nicht überlebt haben.“
Herr Schneider blättert in der Publikation „Blutvergiftung“. In einem Artikel von Gerhard Jochem (S. 28ff.) werden  die Schicksale von Herrn Schneiders ehemaligen jüdischen Mitschülern nachgezeichnet.

„Das ist  schon erfreulich, dass doch so vielen die Flucht gelungen ist. Ohne Verwandte im Ausland war es sicher sehr schwer zu emigrieren. Manche Staaten verweigerten sogar die Aufnahme. Also, das berührt mich wirklich sehr, dass doch viele emigrieren konnten und überlebt haben. Nur mein Freund Kurt Freitag leider nicht.“

„Wissen Sie, warum die Wahl Ihrer Eltern auf das Realgymnasium gefallen ist?“

„Nein. Meine Mutter suchte ein Gespräch mit der Schulleitung und traf dann die Entscheidung, nach Rücksprache mit mir.“

 Herr Schneider ist  über die Schulart des Realgymnasiums relativ genau informiert. Er betont – fast ein bisschen stolz- dass seine  damalige Schule ein Reformgymnasium war. Er weiß darüber Bescheid, dass sich am Egidienberg früher das Humanistische Gymnasium befunden hatte, das erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Sulzbacher Straße umgezogen war. Und dass am Egidienberg nun das Realgymnasium, ein neuer Gymnasialtyp ansässig geworden war, das – 1864 gegründet – die „Realien“, also die Naturwissenschaften und die Neueren Sprachen betonte.
Die Gründe, weshalb viele Juden ihre Kinder auf diese Schule geschickt hatten lagen für Herrn Schneider auf der Hand:

„Für viele Juden war die Wahl offenbar klar: es handelte sich  in den meisten Fällen um Kaufleute. Die sagten sich: wichtig für uns sind moderne Fremdsprachen und natürlich Naturwissenschaften. Mit anderen Worten: das Realgymnasium war ein Schultyp, der den jüdischen Eltern in hohem Maße entsprach.“

Wann die jüdischen Schüler das Realgymnasium verlassen haben, darüber kann Herr Schneider keine genaueren Angaben machen. Vor allem wohl deswegen, weil er die Schule bereits nach der dritten Klasse – also im Frühjahr 1935 – verlassen hat.

„… vielleicht gingen einzelne schon vorher weg. So genau kann ich das heute nicht mehr sagen. Die jüdischen Schüler gingen dann, soviel ich weiß, an die Schule in Fürth.“

Auf seinen Schulwechsel angesprochen meint Herr Schneider, es sei wohl sein bester Freund Kurt Rießbeck gewesen, der ihn dazu gebracht habe, in seine Klasse an der Oberrealschule zu wechseln.

„Außerdem habe ich mich mehr für kreative Tätigkeiten wie das Klavierspielen und das Zeichnen interessiert. An der Oberrealschule belegte ich dann noch Latein als Wahlfach. Am Ende der vierten Klasse enthielt mein Zeugnis nur Zweier. Das ist sicher eine Bestätigung für den hohen Anspruch des Unterrichts am vorher besuchten Reformrealgymnasium.“

„Was hat sich Ihnen über Ihre neue Schule, die Oberrealschule  eingeprägt?“
.
Besonderen Respekt zollt Herr Schneider dem damaligen Schulleiter der Oberrealschule, Herrn Dr. Hatz.

„Dr. Hatz war ein hervorragender Schulleiter, ein  liberaler Mann und ein Mann, der für Ordnung gesorgt hat.“

Mit ihm verbindet er folgendes Erlebnis:

„In der Parallelklasse war eine Mitschülerin, Maria. Sie ist am selben Tag geboren wie ich. Sie wurde später Apothekerin. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen, geistig aber noch sehr rege. Erst vor wenigen Tagen haben wir uns gegenseitig zum Geburtstag gratuliert. Sie war vorher am Labenwolf Mädchengymnasium gewesen. Ihr Vater ist eines Tages vom Direktor einbestellt worden und der hat ihm eröffnet: „Wir können  keine Schülerinnen brauchen, die jüdische Vorfahren haben. Suchen Sie sich eine andere Schule.“ Sie kam dann zu uns, an die Oberrealschule. Hatz hat sie sofort aufgenommen. Das hat mir imponiert! Das war damals alles andere als selbstverständlich.“

Den Schulleiter der Oberrealschule hat Herr Schneider noch aus einem anderen Grund in guter Erinnerung:

„Wir hatten damals einen jungen Mathematiklehrer, Dr. Walter Buckel, den wir wegen seines aufgeschlossenen und engagierten Wesens schätzten. Er verstand es, in uns die Lust zu wecken, auch schwierige Aufgaben der  doch sehr abstrakten Wissenschaft anzugehen  und endlich zu lösen.  Darüber hinaus war er auch bereit, außerhalb des Unterrichts kostenlos Nachhilfe zu geben. Es bildete sich so ein kleiner Freundeskreis. Da wurde nach der Arbeit auch diskutiert über allgemeine Lebensfragen, aber auch über Politik. Obwohl auch er HJ-Mitglied war, hat er sehr heftig die Mängel und Ungerechtigkeiten  des „Führerstaates“ kritisiert, sodass wir ihn oft warnen mussten: „Seien Sie still! Sie reden sich um Kopf und Kragen!“
Ein wenig beliebter Mitschüler unserer Klasse war unter anderem wegen seiner Mathematiknote durchgefallen. Da unterstellte sein Vater, dieser Dr. Buckel würde gleichgeschlechtliche Beziehungen zu uns Schülern unterhalten. Dies führte zu einer peinlichen Untersuchung. Einzeln wurden wir von Dr. Hatz zu dieser Behauptung befragt. Entrüstet haben wir das bestritten. Dr. Hatz scheute sich nicht, diesen Schüler anschließend von der Schule zu verweisen. Ein mutiges Verhalten, das damals Standvermögen erforderte. Den Zeitpunkt kann ich nicht mehr genau sagen. Es dürfte etwa 1937/38 gewesen sein.

Mit Herrn Dr. Buckel blieb Herr Schneider zeitlebens brieflich und persönlich in Kontakt. Er schildert lebhaft, dass sie sich während des Krieges zufällig auf dem Bahnsteig des Nürnberger Hauptbahnhofes trafen und Dr. Buckel in höchster Erregung von der Hinrichtung der Geschwister Scholl und von Professor Huber wegen deren kritischen Flugblättern berichtete. Der Fall „Weiße Rose“ sei damals, soweit er sich erinnere, streng geheim gehalten worden.

„Sie haben dann 1940 das Abitur abgelegt“

„Ja, an Ostern 1940. Da schließt sich der Kreis. Die Prüfung fand nämlich am Realgymnasium statt. Im Gebäude an der Vorderen Landauergasse. Nachdem die Abiturklassen durch vorzeitige Einberufungen zum Kriegsdienst erheblich reduziert waren, hat man die restlichen Prüflinge mehrerer Gymnasien Nürnbergs dort zusammengefasst, um Heizmaterial zu sparen. Meine Einberufung verzögerte sich, weil ich mich zur Pilotenausbildung bei der Luftwaffe gemeldet hatte.“

„Und wie verliefen die Kriegsjahre für Sie?“

„Ich wollte Flugzeugführer werden und wollte Flugzeugbau studieren. Deshalb habe ich bei den Faunwerken ein Praktikum gemacht. Ich bestand alle Prüfungen für den Flugzeugführerlehrgang. Bei der fliegerärztlichen Untersuchung stellt sich aber heraus, dass ich mir beim Praktikum einen Leistenbruch gehoben hatte. Ich habe mich operieren lassen. Aber inzwischen waren alle Flug­zeugführerschulen  überfüllt. Alle wollten fliegen.
Im Nachhinein hat mir dieser Leistenbruch wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich wollte damals nämlich Fernaufklärer werden. Aber das waren natürlich sehr gefährliche Tätigkeiten.
Um der Zwangseinberufung (ohne Wahl) zu entgehen, habe ich mich zur Luftnachrichtentruppe gemeldet. Nach einer Bordfunkerausbildung und einer weiteren Schulung im Radarsystem kam ich schließlich als Jägerleitoffizier der Nachtjagd zum Einsatz gegen die erdrückend übermächtigen Bomber-Geschwader des britischen Air Marshal Arthur Harris. Mit seiner strategisch sinnlosen, politisch aber gewollten Operation „Moral Bombing“ sollte die „Kriegsmoral“ der deutschen Zivilbevölkerung gebrochen werden. (Goebbels: „Wollt ihr den totalen Krieg?“)
Dabei wurden die historischen Zentren fast aller größeren deutschen Städte systematisch zerstört. Hunderttausende Zivilisten, Alte, Mütter, Kinder und Zwangsarbeiter im Feuersturm der Tag- und Nachtangriffe kamen ums Leben. Für seine Verdienste hat man dem Air Marshal in London ein Denkmal errichtet Queen Elizabeth hat es enthüllt.“

„Zur Bewährung im Fronteinsatz habe ich mich noch zur Fallschirmtruppe gemeldet. Nach der Ausbildung in Goslar kam ich sofort im Westen zum Einsatz. Mit unwahrscheinlichem Glück kam ich ohne Verwundung davon. Ein Glück mit bitteren Erinnerungen. Unsere Einheit hat dann schließlich in Holland kapituliert. Wir waren zunächst in Ostfriesland interniert. Im Oktober 1945 bin ich dann wieder nach Hause gekommen.

„Haben Sie nach dem Krieg versucht, Kontakt mit ehem. jüdischen Mitschülern aufzunehmen?

„Ich hatte ja während meiner Schulzeit vor allem Kontakt mit Kurt Freitag. Mein Kontakt zu ihm riss ab, als ich nach der dritten Klasse an die Oberrealschule an der Löbleinstraße wechselte. Nach dem Krieg stellte ich Nachforschungen bei der Jewish Agency an. Nach langem Warten erhielt ich dann doch die Adresse seines Vetters aus Miami. Er schrieb mir, dass Kurt nach dem Tod seines Vaters zu Beginn des Krieges zusammen mit seiner Mutter  nach dem Osten deportiert wurde und umgekommen ist. Dass es gerade ihm nicht gelungen ist, mit seiner Mutter zu fliehen, tut mir sehr weh. Mit seinem heiteren, bescheidenen Wesen und seinem humorvoll reflektierenden Verstand bleibt er mir noch heute in lieber Erinnerung. Fehlte es da vielleicht an solidarischer finanzieller Hilfe?“

Herr Schneider nimmt nochmals das Klassenbild von 1932/33  zur Hand.

„Kurt Schulherr, ja an  den kann ich mich auch noch erinnern. Herbert Kolb? Nein,  da habe ich leider keine Erinnerung mehr. Vor Jahren habe ich mit großem Interesse einen Zeitungsbericht über sein Lebensschicksal gelesen, das ja auch in diesem Buch (gemeint: „Blutvergiftung“) dokumentiert ist. Damals habe ich versucht, über die Zeitung einen Kontakt herzustellen. Aber es kam leider nichts zustande.“

„Unsere beiden Nürnberger Anwesen wurden in Schutt und Asche gelegt, am Albrecht-Dürer-Platz im Herbst 1944 und in der Bergstraße im Februar 1945. Meine Mutter konnte noch einige Vorkriegsfotos meiner Oberrealschulklasse retten. Wenn ich die einzelnen Gesichter betrachte, dann kommen mir die Tränen. Wir waren eine harmonische Gemeinschaft guter Freunde. Über die Hälfte ist „draußen“ geblieben. Ich als einer der Jüngsten kam davon!?“

„Hoffentlich bleibt es den Nachkriegsgenerationen erspart, ihre „Zivilcourage“ unter Bedingungen beweisen zu müssen, wie sie unserer getäuschten und missbrauchten Kriegsgeneration gestellt waren.“

„Wenn man bedenkt, wie es in bitterer Notzeit möglich war, dass sich ein Mann binnen zwölf Jahren auf legalem Wege zum absoluten Herrscher eines streng überwachten „Führerstaates“ emporschwingen konnte, und nach weiteren sechs Jahren nach seinem bisher bewährten Handlungs­stil „Ich habe immer Vabanque gespielt“ in blinder Verbohrtheit, unter Missachtung internationaler Verflechtungen einen Krieg vom Zaun brach, hiermit eine Lawine von Katastrophen schlimmsten Ausmaßes lostrat und bis zum verheerenden Ende trieb, dann gilt es künftig hellwach zu bleiben. Die Ursachen dieser Dramatik sind zu erforschen und offen darzulegen. Vor allem sind soziale Spannungen grundsätzlich zu vermeiden, getreu dem christlichen Grundsatz. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

„ Und wie verlief Ihr Leben nach der Befreiung?“

Wolfgang Schneider, Anfang 1960er Jahre
Quelle: Wolfgang Schneider (privat)

„Zunächst mit einem Jahr harter Arbeit, zusammen mit meinem Vater, für die nötige Restaurierung, Erneuerung und Pflege von Schloss Wiesenthau, wohin meine Eltern nach der Zerstörung der beiden Nürnberger Anwesen 1944/45 gezogen waren, von den Gewölben bis zum hohen Dach.
Dies war eine gute Vorbereitung für das Studium der Architektur und des Städtebaus an der Technischen Universität München, das ich im Herbst 1946 aufnahm und Ostern 1951 mit dem Diplom abschloss.
Nach einem zweijährigen Referendariat am Staatlichen Bauamt in Nürnberg und bei der Regierung von Mittelfranken in Ansbach und nach der Staatsprüfung für den Höheren Dienst („Regierungsbau­meister“) im Dezember 1953 war meine Fachausbildung beendet.
Es folgte eine kurze Zeit mit der Planung und Bauleitung für die Universität Erlangen, doch dann strebte ich eine vielseitigere, selbständige Aufgabe im kommunalen Dienst an.
Von 1955 bis 1960 diente ich der Stadt Kitzingen/Main als Stadtbaurat sehr erfolgreich mit Hilfe einer jungen, engagierten Belegschaft. Es war eine glückliche Zeit für mich und meine junge Familie.
Nach einem Jahr Leitung des Städtebauamts der Stadt Fürth übernahm ich im Jahr 1961 das gesamte Planungs- und Baureferat der Stadt und führte es, parteiunabhängig und viermal wiedergewählt, als Stadtbaurat bis 1987.“

 

Joachim Mensdorf

 

 

 

Anmerkungen:

Anm. 1:
Auf Grund der Angaben von Herrn Schneider (auf der Rückseite des Fotos) lassen sich die Personen und die Namen eindeutig zuordnen.
Von links nach rechts:
Arnstein, Gartmayr, Oestreicher, Bader, Rothenberg, P. Gutmann, Strauß, Löb, Schulherr, Spaeth,  Möhring, Bergmann, Kreiselmayr, Deinlein, Ehrenreich, Hartwig, Player, Blaubaum, Prof. Kipfer, Krause, Zether, Wälder, Heimann, Rothbein, Freitag, Werth, Möschel, Schneider, Hellmann, Goldscmidt, Jaffe, K. Gutmann, Kolb, Lauer.

Anm. 2
Herr Schneider erwähnt im Interview das Schicksal seines Mathematiklehrers Dr. Bruno Lebermann.
Als Todesdatum von Dr. Lebermann ist 31.03.1933 dokumentiert. Als Todesursache wurde „unbekannt“ angegeben.
Über sein Schicksal sowie das seiner Familie ist eine eigene Darstellung geplant.

 

Hinweis:

Bilder und Texte unterliegen urheberrechtlichem Schutz!